Ein evangelikaler Gottesdienst
Am 1. November 2020 fand auf der Münchner Theresienwiese eine Kundgebung der Querdenker*innen statt, auf deren Redner*innen und Teilnehmer*innen wir im Folgenden etwas näher eingehen wollen. Um sich der Beschränkung der Teilnehmer*innenzahl zu entziehen, wurde diese Kundgebung kurzerhand in einen Gottesdienst umgetauft.[1] Passend zu diesem verspäteten Halloween-Gimmick wurde die Veranstaltung vom evangelikalen Aktivisten und ehemaligen Pastor Christian Stockmann moderiert, der sich nach einem Erweckungserlebnis vor über 20 Jahren vom Atheisten zum „Nachfolger Jesu“ wandelte.[2] Erst im März wurde er vom evangelikalen Bund freikirchlicher Pfingstgemeinden (BFP) ausgeschlossen, weil er die Regierungsmaßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ablehnte, die vom BFP unterstützt werden. Stockmann gründete daraufhin die „Christen im Widerstand“, die sich in der Tradition des evangelischen Widerstandskämpfers gegen den Nationalsozialismus Dietrich Bonhoeffer sieht: So wie sich die Bekennende Kirche dem NS-Regime und der Verfolgung der Jüd*innen entgegenstellte, so wollen auch Stockmann und seine Anhängerschaft gegen Maskenpflicht und Abstandsgebot Widerstand leisten.[3] Diese eklatante Verharmlosung von Nationalsozialismus, Rechtsextremismus und Antisemitismus ist bei Stockmann aber keine neue Erscheinung. Bereits 2017 outete er sich auf seinem Blog als Wähler der AfD. Seine Wahlentscheidung rechtfertigte er in einer ausufernden Textwüste, laut der ihn insbesondere die Haltung gegen Feminismus, Abtreibungen, LGBT+, Einwanderung (in seinen Worten: „Gendermainstreaming“, „Frühsexualisierung“, „Islamisierung“ etc.) und die Leugnung des Klimawandels überzeugten. Der Rassismus und der Antisemitismus in der Partei werden systematisch mit Verweis auf jüdische und migrantische Mitglieder relativiert, die Rolle offen rechtsextremer Beteiligter kleingeredet.[4] Mit Stockmann haben die Querdenker*innen, die bislang in München um ein bürgerlich-liberales Image bemüht waren, folglich einen christlichen Fundamentalisten mit zutiefst menschenverachtenden Ansichten zum Gesicht der Kundgebung gemacht. In seinen Redebeiträgen war dann hauptsächlich besinnlich-erbauliches Gerede mit theatralischem Gestus zu hören, wie man es von US-Fernsehpredigern kennt – wenn er nicht gerade ausdrücklich Trump-Anhänger*innen im anwesenden Publikum grüßte[5].
Hoher Besuch aus dem Himmel: Jürgen Fliege
Mehrere Redebeiträge gab es zudem von Jürgen Fliege, einem ehemaligen evangelischen Pfarrer. Manche kennen ihn vielleicht noch als Moderator einer Talkshow, die zwischen 1994 und 2005 im Ersten lief.[6] Insofern stellte er die mit Abstand größte Prominenz dieses Nachmittags dar. Daraus nahm er sich wohl die Freiheit zu den größten Entgleisungen des Abends. Im Zusammenhang mit den Coronamaßnahmen der Bundesregierung lässt er sich zu folgendem Satz hinreißen: „Und dann hört man aus Berlin: Wollt ihr den totalen Sieg [Pause] über das Virus?“[7] In Eintracht mit Stockmanns „Christen im Widerstand“ relativiert auch Fliege mithin den Nationalsozialismus: Die Regierung wird aufgrund ihrer Maßnahmen mit NS-Propagandaminister Joseph Goebbels auf eine Stufe gestellt, der mit der rhetorischen Frage „Wollt ihr den totalen Krieg?“ die Anwesenden des Sportpalasts 1943 auf eine Intensivierung des Vernichtungskrieges einstimmen wollte.An späterer Stelle gibt er einen noch verspulteren Kommentar von sich: „Wenn ein Land wie unseres im 4/4-Takt marschiert, dann ist hier 4/4-Takt-Marschmusik – und das ist ein Meister aus Deutschland. 4/4-Takt wird marschiert und wer nicht mitmarschiert, dem geht es so wie Elias Canetti, dem berühmten deutschen Literaturnobelpreisträger jüdischen Glaubens, der hat gesagt: ‚Versuch doch mal, wenn ein Land, wenn Soldaten, wenn Polizei, ja sogar der Schützenverein im 4/4-Takt [unverständlich], versuch doch mal, auf dem Bürgersteig Walzer zu tanzen. Es geht nicht. Dieser 4/4-Takt der Gleichschaltung hat eine solche Kraft, dass wir ihr nicht gewachsen sind. Umso mehr müssen wir uns jetzt umschauen nach einer geistlichen, spirituellen Medizin. Die einzige Medizin gegen die Angst ist Vertrauen.“[8]Dieser Beitrag verdient eine nähere Analyse, um zu verstehen, was er aussagen soll. Das Zitat Canettis konnten wir bislang nicht verifizieren. Ausgedrückt werden soll jedoch ein Aufruf zum Widerstand (in der Metapher des Walzers, des 3/4-Taktes) gegen den 4/4-Takt, den Fliege mit der „Gleichschaltung“ assoziiert. Auch hier findet sich folglich eine Relativierung des Nationalsozialismus, indem die gegenwärtigen Maßnahmen zur Pandemieeindämmung vermittelt über die Taktmetaphorik mit der NS-Politik und des NS-Begriffs der Gleichschaltung, also der Beseitigung demokratischer pluralistischer Strukturen und der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung. Doch nicht genug damit: Indem er den 4/4-Takt als „Meister aus Deutschland“ bezeichnet, nimmt er Bezug auf Paul Celans Gedicht „Todesfuge“. Dieses thematisiert die Shoa und spricht wiederholt vom Tod als „Meister aus Deutschland“. Nicht genug, dass sich Jürgen Fliege von der Bundesregierung wie zu NS-Zeiten verfolgt fühlt: Durch dieses Zitat werden die Regierungsmaßnahmen, Maskenpflicht und Abstandsgebot mit der Shoa gleichgesetzt. Das ist Shoa-Relativierung und nichts anderes.
Christliche Lieder mit Beigeschmack
Zwischen den Wortbeiträgen Stockmanns und Flieges wurde zudem ein christliches Lied mit dem Titel „Zünde an dein Feuer“ angestimmt. Dabei handelt es sich um einen Text, der wohl in den 1950er Jahren von Berta Schmidt-Eller geschrieben wurde.[9] Als Melodie nutzt es jene der israelischen Nationalhymne, die um 1890 von Samuel Cohen komponiert wurde. Als Vertonung des Gedichts Tikwateno von Naphtali Herz Imber enntwickelte es sich schon um die Jahrhundertwende in der jüdischen Gemeinschaft (der zionistischen wie nichtzionistschen) zu einer verbreiteten Folklore und wurde 1933 zur zionistischem Hymne erklärt.[10] An der Verwendung dieser Melodie für ein christliches Lied mit einer Verbrennungssymbolik – und das nach der Shoa – hat sich unter Jüd*innen wie Christ*innen in der Vergangeheit Kritik breit gemacht.[11] Bei all dem Antisemitismus, der in der Vergangenheit bei den Corona-Rebell*innen artikuliert und an ihnen kritisiert wurde, zeugt das bestenfalls für eine nicht vorhandene Sensibilität – oder schlimmstenfalls für eine an die jüdische Gemeinschaft gerichtete Drohgebärde.
Offene Ausgrenzung von Jüd*innen
Wesentlich eindeutiger ist eine Entgleisung der Schriftstellerin Alexandra Motschmann, die bereits in der Vergangenheit auf Münchner Querdenker*innen-Demos auftrat und diese bisweilen auch moderierte. In einem Redebeitrag gestern sagte sie: „Der liebe Gott, der da oben ist, liebt alle Christen und der liebt auch Moslems und der liebt auch Buddhisten, Shintoisten, Hinduisten, weil es ist ein Gott der Liebe. Amen.“[12] Wen der Gott der Corona-Rebell*innen offenbar nicht liebt, ist die jüdische Bevölkerung, die in der Aufzählung fehlt. Man könnte meinen, dass Motschmann dabei den Rapper Ukvali zitiert, der auf dem von ihr moderierten Querdenker*innen-Festival „Zur Freiheit“ am 25. Juli in München angekündigt war, aber aufgrund seiner Verbindungen zu Rechtsextremen ausgeladen wurde; in seinem vor Antisemitismus triefenden Song „Killuminati 3.0“ heißt es in einer Zeile: „Ob Buddhist oder Christ, wir sind alle gleich / Hindu oder Moslem, ganz egal, ob schwarz und weiß.“[13] Dabei leben in Deutschland gegenwärtig immer noch mehr Jüd*innen als Hindus oder Shintos[14], von der Jahrhunderte alten Geschichte der jüdischen Bevölkerung in Deutschland ganz zu schweigen. Auch angesichts der starken Antisemitismuskritik an den Querdenker*innen erscheint es arg unrealistisch, dass Motschmann Jüd*innen schlicht „vergessen“ hat. Vielmehr ist dieser Satz als demonstrative Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung zu verstehen.
Freundschaft mit Neonazis: Nana Domena
Als weiterer Redner wurde noch der Influencer Nana Domena eingeladen, der auch auf Querdenker*innen-Demos in anderen Städten bereits gesprochen hat. Seit 2016 unterhält er einen gemeinsamen Podcast mit dem Neonazi Frank Kraemer, der vor allem als Gitarrist der Rechtsrock-Band „Stahlgewitter“ bekannt ist und von Domena als „Freund“ bezeichnet wird. Im Podcast wird Kraemer unter dem Deckmantel von Meinungsaustausch und Demokratie ein Podium geboten, nahezu unwidersprochen seine rechtsextreme und rassistische Weltanschauung zum Besten zu geben. In Eintracht teilen sie verschwörungsideologische Inhalte in Bezug auf die Pandemie („Zwangsimpfung“, „Bill Gates“, „Aushebelung der Grundrechte“, „Verchippung“ etc.), postulieren einen „Schuldkult“ in Deutschland, durch den die Bürger*innen erpressbar gemacht würden (inklusiver angedeuteter Holocaustleugnung) oder relativieren den rechtsterroristischen Charakter des Anschlags in Hanau. Domena bezeichnet ihn auch ausdrücklich als „politisch in erster Linie korrekt“. Oft werden zudem Gäste eingeladen wie der aktuelle NPD-Vorsitzende Frank Franz. Einen anderen Podcast betreibt er darüber hinaus mit Marvin König, einem Bewunderer des AfD-Vorsitzenden Jörg Meuthen und des Verschwörungsideologen und QAnon-Propagandisten Oliver Janich.[15] Diese Verbindungen Domenas zur extremen Rechten sprechen für sich. Jemandem wie ihm einen Redebeitrag zu gewähren ist ähnlich wie die Moderation Stockmanns als Ausdruck zunehmender Radikalisierung der Corona-Rebell*innen nach rechts einzuschätzen. Wie oben erwähnt wurde für das Festival am 25. Juli auf äußeren Druck der Rapper Ukvali aufgrund rechtsextremer Verbindungen noch ausgeladen. Keine drei Monate später kann jemand wie Domena mit ebenso starker Vernetzung problemlos auf der Bühne herumspringen.
Bilderstrecke
Abschließend möchten wir hier einige Bilder von der Kundgebung präsentieren:

















[1] https://www.sueddeutsche.de/muenchen/muenchen-corna-demo-querdenker-gottesdienst-1.5100851?utm_source=Twitter&utm_campaign=twitterbot, zuletzt aufgerufen am 2.11.2020.
[2] https://www.mandelzweig.org/gemeinde/leitungsteam/, zuletzt aufgerufen am 2.11.2020.
[3] https://www.br.de/nachrichten/kultur/wir-beten-fuer-deutschland-christen-auf-corona-demos,SA0VB7J, zuletzt aufgerufen am 2.11.2020.
[4] https://www.mandelzweig.org/deutschland/2017/10/01/statement-zu-meiner-bundestagswahl/, zuletzt aufgerufen am 2.11.2020.
[5] https://twitter.com/ThomasPWue/status/1322939081555365890, zuletzt aufgerufen am 2.11.2020.
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/J%C3%BCrgen_Fliege, zuletzt aufgerufen am 2.11.2020.
[7] https://www.youtube.com/watch?v=3zKp54hln7Y, bei 1:43:00, zuletzt aufgerufen am 2.11.2020.
[8] Ebd., bei 1:46:00.
[9] https://www.liederdatenbank.de/song/426, zuletzt aufgerufen am 2.11.2020.
[10] Regina Randhofer, “Ha-Tikwa”, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Leipzig 2017. (Online: http://dx.doi.org.emedien.ub.uni-muenchen.de/10.1163/2468-2845_ejgk_COM_0297, zuletzt aufgerufen am 2.11.2020.)
[11] http://wegedeslebens.info/Literatur/KonvertierteHaTikva.html, zuletzt aufgerufen am 2.11.2020.
[12] https://www.youtube.com/watch?v=3zKp54hln7Y, bei 1:03:00, zuletzt aufgerufen am 2.11.2020.
[13] https://lbga-muenchen.org/2020/07/22/die-muenchner-corona-rebellinnen-und-der-ruck-nach-rechts-das-zur-freiheit-festival-am-25-juli/, zuletzt aufgerufen am 2.11.2020.
[14] https://de.wikipedia.org/wiki/Religionen_in_Deutschland, zuletzt aufgerufen am 2.11.2020.
[15] https://correctiv.org/faktencheck/hintergrund/2020/10/16/mein-freund-der-neonazi-querdenken-moderator-pflegt-seit-jahren-kontakt-in-die-rechtsextreme-szene/, https://multikultitrifftnationalismus.de/youtube/, jeweils zuletzt aufgerufen am 2.11.2020.
1 Kommentar zu „Anmerkungen zum „Gottesdienst“ der Querdenker*innen am 1. November 2020“