Unser Redebeitrag auf der Kundgebung „Nie wieder ist jetzt!“ am 10.12.2023

Liebe Genoss*innen und Freund*innen,

Wir haben uns hier versammelt, um knapp zwei Monate nach dem bestialischen Pogrom der Hamas an der israelischen Zivilbevölkerung unsere Solidarität mit Jüdinnen*Juden auszudrücken und ein Zeichen gegen jeden Antisemitismus, Islamismus und Rassismus zu setzen. 1200 Menschen sind dabei auf grausame Weise getötet worden. Die kalkulierte Systematik des Vorgehens der Hamas, ihre unvorstellbare Zerstörungslust und das Ausmaß des vollständigen Vernichtungswillens, der sich auch gezielt gegen ältere Menschen und sogar Säuglinge richtete, erinnern nicht ohne Grund an den antisemitischen Furor des Nationalsozialismus. Der Vergleich ist angebracht, da es sowohl der Hamas als auch jenen Teilen der palästinensischen Zivilbevölkerung, die sie bei diesem Pogrom unterstützten, um die vollständige Auslöschung des Judentums ging und geht – davon abgesehen, dass die Hamas sich gelegentlich gerne selbst in die nationalsozialistische Tradition stellt, wenn sie Palästinaflaggen gemeinsam mit einer Hakenkreuzfahne hisst, was in der Vergangenheit tatsächlich geschehen ist. Unsere Gedanken gelten nun den Angehörigen der Opfer dieses Pogroms und den Geiseln, die nach wie vor von der Hamas festgehalten werden.

Es ist nun wichtig, als politische Linke sich mit Jüdinnen*Juden solidarisch zu zeigen, wenn viele andere Linke genau diese Solidarität und diese Haltung vermissen lassen. Das antisemitische Massaker am 7. Oktober war nämlich nicht nur ein Vorfall im vermeintlich weit entfernten Israel: Es beeinträchtigt jüdisches Leben auch in Deutschland. Die Zahl antisemitischer Handlungen, auch Straftaten, ist seitdem signifikant gestiegen; Synagogen wurden angegriffen; Davidsterne auf Häuser geschmiert, in denen Jüdinnen*Juden leben; jüdische Gemeinden erhalten beständig Drohanrufe und Drohmails; und werden auf offener Straße regelmäßig angegriffen, wenn sie eine Kippa oder eine Kette mit Davidstern tragen. Und noch vieles mehr. In dieser Situation gemeinsam mit Hamas-sympathisierenden Organisationen wie Palestine speaks zu demonstrieren, wie manche Linke auch in München das tun, ist bestenfalls ein Ausdruck mangelnder Integrität, wenn nicht eines handfesten antisemitischen Ressentiments.

Die Geschichte des linken Antisemitismus ist mittlerweile wissenschaftlich relativ gut aufgearbeitet. Antijüdische Stereotype waren in der linken Bewegung bereits im 19. Jahrhundert virulent, aber zu einem manifesten Ressentiment und einer geschlossenen Ideologie verdichteten sie sich erst zur Zeit Josef Stalins. Seine Kampagne gegen eine vermeintliche zionistische Weltverschwörung, der auch viele Jüdinnen*Juden zum Opfer gefallen sind, und sein damaliger Einfluss als Oberhaupt des weltweit mächtigsten sozialistischen Staates waren verantwortlich für die bis heute nachwirkende und weit verbreitete Festsetzung antisemitischer Denkmuster in der politischen Linken. Genauso alt wie die sogenannte Ärzteverschwörung ist auch der linke Israelhass. 

Der Antizionismus ist in der globalen Linken derart dominant, dass man meinen könnte, sie trage ihn in sich wie die Wolke den Regen. Wenn er aber erst durch Stalin und seine Anhänger*innen maßgeblich in der Linken kultiviert wurde, so besteht auch die Möglichkeit, ihn wieder loszuwerden. Denn Israelsolidarität und ein linkes Selbstverständnis schließen sich nicht aus. Vielmehr ist Israelsolidarität eine notwendige Konsequenz all jener Haltungen, die die Linke seit jeher ausmacht: Antifaschismus und eine solidarische Haltung mit den unterdrückten, diskriminierten und bedrohten Menschen dieser Welt. Israel ist der Schutzraum jener Menschen, die seit Jahrhunderten wie keine andere Volksgruppe Entrechtungen, Verfolgungen und Pogromen ausgesetzt war, die in der Shoa kulminierten. Der jüdische Staat ist die notwendige Konsequenz für diese Verfolgungen: ein Emanzipationsprojekt zur Schaffung eines Staates, in dem die Jüdinnen*Juden selbst die Mehrheit stellen und sich verteidigen können statt sich auf den Schutz und die Duldung durch eine andere, nichtjüdische Mehrheit verlassen zu müssen. Bei aller Liebe zur materialistischen Staatskritik: Wie können wir als Linke mit diesem Emanzipationsprojekt einer verfolgten Minderheit denn nicht solidarisch sein?

Und mehr noch: Die Vorstellung der palästinensischen Bewegung als dem „Underdog“, also dem wahrhaft Bedrohten im Nahost-Konflikt ist eine Farce, das Ergebnis einer einzigen Marketing-Kampagne. Vergessen wir nicht, dass Israel, ein vergleichsweise kleiner Staat, von einer Vielzahl feindseliger Länder umgeben ist, die seit seiner Gründung 1948 immer wieder versucht haben, ihn militärisch zu vernichten, womit sie zum Glück gescheitert sind. Vergessen wir auch nicht, dass rund eine Million Jüdinnen*Juden zwischen 1948 und 1972 aus islamisch geprägten Ländern flüchten mussten und gerade in Israel eine neue Heimat fanden. Sie erlebten gewissermaßen eine eigene Nakba, über die kein antizionistischer Linker je ein Wort verliert. Kein Zweifel: Israel zu beseitigen, hieße, seine jüdischen Bewohner*innen den antisemitischen Mehrheiten schutzlos auszuliefern. Eine Linke, die ihre Haltung gegen Antisemitismus konsequent durchziehen will, ist daher zu Solidarität mit Israel geradezu verpflichtet.

Der Antizionismus ist nämlich eine Spielart des Antisemitismus und nichts anderes. Er bedroht jüdische Menschen in Israel – und auch außerhalb. Und dass er das tut und dabei auch außerhalb Israels Todesopfer fordert, dafür liefert München das deutlichste Beispiel: Vergessen wir nicht das Olympia-Attentat 1972, bei dem die palästinensische Terrororganisation Schwarzer September elf israelischen Sportler*innen das Leben nahm, unterstützt von Neonazis, bejubelt von radikalen Linken. Allein vor diesem Hintergrund verbietet sich jede Palästinasolidarität, gerade hier in München. Die Weigerungshaltung vieler Linker, den Antisemitismus der eigenen Bewegung und seine Geschichte kritisch aufzuarbeiten, um ihn zu überwinden, erinnert dabei frappierend an den Schuldabwehr-Komplex der deutschen Bevölkerung im Umgang mit der Shoa.

Das Ende des real existierenden Sozialismus in Osteuropa hat eine Vielzahl von Reflexionen innerhalb der Linken ausgelöst: In der Regel geht es um die Frage nach dem katastrophalen Scheitern des Versuchs, eine emanzipierte Gesellschaft zu errichten. Nur leider fehlen in diesen Reflexionsversuchen meist der linke Antisemitismus, der im Realsozialismus seine Wurzeln hat, und seine tödlichen Folgen für jüdisches Leben. Es ist daher an der Zeit, sich dieses stalinistischen Erbes endgültig zu entledigen. Damit die Solidaritätsbekundungen der politischen Linken mit Jüdinnen*Juden keine Lippenbekenntnisse bleiben – und damit die Linke einsieht, was die tatsächlichen Probleme unserer Zeit sind: Soziale Ungerechtigkeit, Patriarchat, Klimawandel – aber nicht Israel.

1 Kommentar zu „Unser Redebeitrag auf der Kundgebung „Nie wieder ist jetzt!“ am 10.12.2023

  1. Sehr guter Beitrag für den ich echt dankbar bin. Ernüchtert und aufgewühlt habe ich in den letzten Monaten die Verblendung in nicht kleinen Teilen des linken Spektrums festgestellt, die sich mit Rechtsradikalismus und Islamofaschismus trifft in puncto Antisemitismus/Antijudaismus/Antizionismus. Dieser Redebeitrag findet meine volle Zustimmung. Nie wieder ist jetzt!

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