Am 2. November 2024 einigten sich die Fraktionen der Ampelkoalition mit der Unionsfraktion auf eine gemeinsame Resolution mit dem Titel „Nie wieder ist jetzt: Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken“, die am 7. November vom Bundestag angenommen wurde. Bereits im Vorfeld artikulierte sich – auch aus Reihen der Ampelfraktionen – Kritik, die sich im wesentlichen an der Orientierung der Resolution an der IHRA-Definition und an einer vermeintlichen Darstellung von Jüdinnen*Juden als „homogene, einheitliche Positionen vertretende Gruppe“ entzündete.[1] In Reaktion darauf wurde ein offener Brief initiiert, der eine „Zivilgesellschaftliche Unterstützung der Bundestagsresolution“ anvisiert.[2] Auch wir wurden angefragt, ihn zu unterschreiben, haben uns aber dagegen entschieden und möchten das im Folgenden begründen.
Zunächst: Die Resolution enthält fraglos viele wichtige Impulse und Bestimmungen, die wir uneingeschränkt unterstützen. Dazu zählen u. a.:
– Die Förderung von Gedenkstätten und Erinnerungseinrichtungen und historisch-politischer Bildungsarbeit, um das Gedenken an die Shoa wachzuhalten
– Der Beschluss, keine Organisationen zu fördern, die das Existenzrecht Israels infrage stellen, zum Boykott Israels aufrufen oder die BDS-Bewegung unterstützen
– Weiteres Engagement für die Sicherheit jüdischen Lebens und den Schutz jüdischer Einrichtungen
– Die Unterstützung des Verbots von Hamas und Samidoun durch die Bundesregierung
– Die Forderung, die Antisemitismusskandale der vergangenen Jahre aufzuarbeiten wie der beispielhaft genannte documenta15-Vorfall
– Die Forderung, antisemitismuskritische Codes of Conduct und Awarenessstrategien bei Kulturveranstaltungen anzuwenden, die mit Antisemitismus-Expert*innen ausgearbeitet werden
– Die Forderung, Antisemitismusbeauftragte an Hochschulen einzusetzen und die Lehrenden für Antisemitismus zu sensibilisieren
– Die Forderung, den Aufbau des Deutsch-Israelischen Jugendwerks zügig voranzutreiben
– Die Aufforderung an die Bundesregierung, international für das israelische Recht auf Selbstverteidigung einzutreten[3]
Die bislang an der Resolution öffentlich artikulierte Kritik teilen wir ausdrücklich nicht. Die Orientierung an der IHRA-Definition wurde in der Resolution im Vergleich zu früheren Bundestagsbeschlüssen sogar abgeschwächt formuliert – als Kompromiss gegenüber Israelkritiker*innen und als ausdrückliche Offenheit für „andere Sichtweisen“, wobei an die JDA (Jerusalem Declaration on Antisemitism) gedacht werden muss, deren Zweck es u. a. ist, BDS aus der Schußlinie zu nehmen[4]; gegenüber der IHRA-Definition stellt die JDA einen deutlichen Rückschritt dar, weshalb dieser Kompromiss entschieden zu kritisieren ist.
Zudem hat niemand je behauptet, Jüdinnen*Juden bildeten einen homogenen Block, der mit einer Stimme spreche. Es gibt Jüdinnen*Juden, die die Resolution ablehnen und sogar vereinzelt welche, die antisemitische Initiativen und Organisationen unterstützen, ob sie nun BDS oder AfD heißen. Allerdings haben zahlreiche jüdische Gemeinden und Einrichtungen in einem am 5. November veröffentlichten Appell sich für die Unterstützung der Resolution ausgesprochen[5] – aus guten Gründen: Die von uns aufgezählten Beispiele und weitere Bestimmungen würden die Situation und die Sicherheit von Jüdinnen*Juden in Deutschland zweifelsohne verbessern. Die politische Linke muss die Sicherheitsbedenken und Bedürfnisse der von Antisemitismus Betroffenen, die sich in ihrer überwältigenden Mehrheit für die Resolution aussprechen, berücksichtigen und ernstnehmen statt auf Einzelfälle zu verweisen, um diese für die eigene pauschale Opposition zu instrumentalisieren.
Das vorausgesetzt kritisieren wir die Resolution für einen unserer Auffassung nach hochproblematischen Passus:
Die Nationale Strategie gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben ist vollständig und nachhaltig auszufüllen und umzusetzen. Dazu gehört es unter anderem, ‚Gesetzeslücken zu schließen und repressive Möglichkeiten konsequent auszuschöpfen‘ (NASAS, S. 39). Dies gilt in besonderem Maße im Strafrecht sowie im Aufenthalts-, Asyl- und Staatsangehörigkeitsrecht, um eine möglichst wirksame Bekämpfung von Antisemitismus zu gewährleisten.[3]
Welche zu schließenden Gesetzeslücken gemeint sind, die Straf-, Aufenthalts-, Asyl- und Staatsangehörigkeitsrecht betreffen, bleibt vage. Vor dem Hintergrund, dass die Resolution einige Absätze zuvor auf „das erschreckende Ausmaß eines Antisemitismus“ verweist, „der auf Zuwanderung aus den Ländern Nordafrikas und des Nahen und Mittleren Ostens basiert“, ist anzunehmen, dass unter dem Vorwand der Bekämpfung von Antisemitismus die Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen beschnitten werden sollen. Das scheint eine etwas blumigere Umformulierung für das zu sein, was Markus Söder vergangenen November gegenüber der BILD verlautbart hat: dass Antisemit*innen die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen und sie abgeschoben werden sollen.[6]
Wir kritisieren diesen Sachverhalt aus folgenden Gründen. 1. Es ist kaum anzunehmen, dass Rechtsextremen Bürgerrechte entzogen oder sie gar abgeschoben werden sollen. Wohin auch? Antisemit*innen je nach Migrationshintergrund unterschiedlich zu behandeln ist vor allem eins: rassistisch. Und Antisemitismus mit Rassismus bekämpfen zu wollen, hieße, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Statt das eine gegen das andere auszuspielen, muss beides gleichermaßen bekämpft werden. 2. Das Recht auf Asyl und das Recht auf Freizügigkeit sind universell und gelten für alle – auch für Antisemit*innen. Allein aus humanitären Gründen lehnen wir Abschiebungen und den Entzug von Bürgerrechten oder der Staatsbürgerschaft ab. 3. Abschiebungen würden zudem das Antisemitismusproblem nicht lösen. Die betreffenden Personen würden dann in anderen Regionen der Welt ihr Unwesen treiben – schlimmstenfalls in Israel selbst. 4. Angesichts des gegenwärtigen Rechtsrucks sehen wir die Gefahr, dass derartig geschlossene „Gesetzeslücken“, die Aufenthalts-, Asyl- und Staatsangehörigkeitsrecht untergraben, einer hypothetischen AfD-Regierung in die Hände fallen und von ihnen zu eigenen Zwecken instrumentalisiert werden. Vergessen wir nicht, dass rund 90% der Jüdinnen*Juden in Deutschland einen meist postsowjetischen Migrationshintergrund haben.[7] Angesichts des offenen Antisemitismus der AfD und der zu Jahresbeginn veröffentlichten Pläne einiger ihrer Spitzenpolitiker*innen zur Deportation von Migrant*innen[8], könnte sich eine dergestalt veränderte Gesetzeslage auch gegen Jüdinnen*Juden richten. 5. Sowohl das Recht auf Asyl als auch die hohen Hürden zum Entzug der Staatsbürgerschaft sind auch Reaktionen auf die Erfahrung mit der Shoa: Die Genfer Flüchtlingskonvention entstand 1951 nicht zuletzt unter dem Eindruck, dass zahlreiche jüdische Flüchtlinge aus dem Dritten Reich vor Kriegsbeginn von anvisierten Aufnahmeländern abgewiesen wurden[9]; und weil der Nationalsozialismus neben politischen Gegner*innen und Sinti und Roma auch zahlreichen Jüdinnen*Juden Bürgerrechte entzogen hat, sollen entsprechende Hürden dafür sorgen, dass sich das nicht wiederholen kann[10]. Dass sich die Resolution zu Beginn über eine besondere Verantwortung Deutschlands für die Bekämpfung des Antisemitismus angesichts der Shoa legitimiert, nur um in einem späteren Absatz zentrale Errungenschaften infrage zu stellen, die als Lehre aus dieser entwickelt wurden, empfinden wir als zynisch. 6. Auch die Verschärfung des Strafrechts lehnen wir ab, da aus kriminologischer Sicht fragwürdig ist, inwieweit schärfere Strafen weitere Verbrechen vermeiden.[11]
Aus den genannten Gründen haben wir beschlossen, den offenen Brief zur Unterstützung der Resolution nicht zu unterzeichnen, obgleich wir viele ihrer Bestimmungen wichtig und richtig finden. Zu unserem eigenen Erstaunen haben wir in der aktuellen Debatte aber keine Stimme hören können, die die von uns vorgebrachte Kritik vertreten würde. Stattdessen fokussieren sich die Gegner*innen der Resolution auf Definitionsfragen und die Beschwörung eines jüdischen Pluralismus, wo sie nicht in populistischer Manier die Meinungsfreiheit gefährdet sehen[12]. Die politische Linke zeigt im Umgang mit der Resolution erneut, wie sie beim Thema Antisemitismus versagt: Statt den Dialog zu jüdischen Organisationen und ihren Vertreter*innen zu suchen und ihnen Gehör zu schenken, schmeißen sich Teile von ihr auf token Jews, um sich mit dem Antisemitismusproblem nicht weiter auseinandersetzen zu müssen und die Resolution pauschal ablehnen zu können – nur um zu übersehen, wo deren tatsächlichen Schwachpunkte liegen.
[1] Beispielhaft: https://www.faz.net/einspruch/nachrichten/vorschlag-zur-bundestagsresolution-gegen-antisemitismus-110063906.html, https://www.nina-scheer.de/2024/11/04/nina-scheer-antisemitismus-resolution-bedarf-ueberarbeitung/, vgl. dazu auch https://zeitung.faz.net/faz/feuilleton/2024-11-05/3de4598ea46b5bbc20329f0ccb427a27/?GEPC=s9, https://www.juedische-allgemeine.de/politik/gruenen-politiker-kritisieren-kampagne-gegen-antisemitismus-resolution/, jeweils zuletzt aufgerufen am 06.11.2024.
[2] https://docs.google.com/forms/d/e/1FAIpQLSdR-dhAOfyTrqYK9lS1R18O3XoYnE0VIvkkSGskXmJ2tQpmhw/viewform, zuletzt aufgerufen am 06.11.2024.
[3] S. den Text der Resolution hier: https://www.juedische-allgemeine.de/politik/lesen-sie-hier-den-entwurf-fuer-die-antisemitismus-resolution/, zuletzt aufgerufen am 06.11.2024.
[4] Vgl. https://www.sueddeutsche.de/kultur/antisemitismus-bundestag-resolution-ihra-definintion-lux.6jJXaWwzbJT4Zp44YK96aB?reduced=true, zuletzt aufgerufen am 07.11.2024.
[5] https://werteinitiative.de/gemeinsamer-appell/, zuletzt aufgerufen am 06.11.2024.
[6] https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/judenhass-soeder-fordert-abschiebungen-innerhalb-eines-monats-86062004.bild.html?t_ref=https%3A%2F%2Fm.bild.de%2Fpolitik%2Finland%2Fpolitik-inland%2Fjudenhass-soeder-fordert-abschiebungen-innerhalb-eines-monats-86062004.bildMobile.html, jeweils zuletzt aufgerufen am 06.11.2024.
[7] https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/252561/juedische-kontingentfluechtlinge-und-russlanddeutsche/#:~:text=H%C3%A4tte%20die%20Einwanderung%20nicht%20stattgefunden,Migranten%20aus%20der%20ehemaligen%20Sowjetunion, zuletzt aufgerufen am 06.11.2024.
[8] https://correctiv.org/aktuelles/neue-rechte/2024/01/10/geheimplan-remigration-vertreibung-afd-rechtsextreme-november-treffen/, zuletzt aufgerufen am 06.11.2024.
[9] https://verfassungsblog.de/europas-werk-und-deutschlands-beitrag/, zuletzt aufgerufen am 06.11.2024.
[10] Vgl. https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/grundrechte-305/254398/ausbuergerung-auslieferung/, https://vorwaerts.de/inland/kann-einem-deutschen-die-staatsburgerschaft-entzogen-werden, https://www.instagram.com/reel/CzWgDJMs3lO/?igsh=ZzFxczZ1bXp0aXhx, jeweils zuletzt aufgerufen am 06.11.2024.
[11] Vgl. Crump, David (2018): Deterrence. In: St. Mary’s Law Journal 49, S. 317–361. (online: https://commons.stmarytx.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1001&context=thestmaryslawjournal, zuletzt aufgerufen am 07.11.2024.)
[12] So etwa: https://x.com/NicoleGohlke/status/1853353638237769871, zuletzt aufgerufen am 06.11.2024.
