Unser Redebeitrag auf der Gedenkundgebung für die Opfer des Nationalsozialismus am 27.01.2024

Liebe Genoss*innen und Freund*innen,

Wir versammeln uns hier, um jenes Tages zu gedenken, an dem die beiden Konzentrationslager Auschwitz von der Sowjetarmee befreit wurden: des 27. Januar 1945. Zwischen 1940 und 1945 wurden über 1 Million Menschen in die Lager deportiert und getötet, zum größten Teil Jüdinnen*Juden, denen vielfach direkt nach ihrer Ankunft das Leben genommen wurde. Auschwitz war daher mehr als nur ein Arbeitslager oder ein Konzentrationslager wie beispielsweise das unweit von hier gelegene Dachau: Es war eine Tötungsanlage, geschaffen, um den nationalsozialistischen antisemitischen Wahn in die Tat umzusetzen. In der Nachkriegszeit etablierte sich „Auschwitz“ als Symbol, wenn nicht Synonym für die Shoa insgesamt. Es stimmt, dass in den beiden Lagern auch Kriegsgefangene und Angehörige anderer Ethnien, Religionen oder von den Nazis rassifizierter Gruppen ums Leben gekommen sind. Und doch bildeten Jüdinnen*Juden den mit Abstand größten Teil: ungefähr 90%. Es ist daher wichtig, sich der Tatsache bewusst zu machen, dass Jüdinnen*Juden nicht zu beliebigen Opfern des Nationalsozialismus wie jede andere Gruppe zählten, etwa Kommunist*innen oder Sozialdemokrat*innen. Die Vernichtung jüdischen Lebens hatte für die nationalsozialistische Führung oberste Priorität, weil das Judentum als Feind Deutschlands schlechthin galt. Nicht anders ist zu erklären, dass die Reichsführung um Hitler in den letzten Kriegsmonaten strategische Einbußen in Kauf nahm, indem sie vorhandene Zugverbindungen lieber zur Deportation von Jüdinnen*Juden in die Vernichtungslager nutzte, egal ob Alte oder Kinder, statt  Waffen und Soldaten an die Ostfront zu transportieren.

Der Shoa voraus gingen einige Jahrzehnte zunehmender antisemitischer Mobilisierung. Beginnend mit der Gründerkrise in den 1870er Jahren, der Einwanderung sogenannter „Ostjuden“ aus Polen und Russland und der Emanzipation der deutschen jüdischen Bevölkerung, der in der Reichsverfassung von 1871 erstmals die gleichen Bürgerrechte wie der nicht-jüdischen gewährt wurde, etablierte sich die völkische Bewegung, die einen rabiaten Antisemitismus zum Kernpunkt ihrer politischen Agitation machte und damit auch die damaligen konservativen Strömungen stark beeinflusste. Aktuelle Krisensymptome wurden auf die verdeckten Aktivitäten einer vermeintlichen jüdischen Verschwörung zurückgeführt. Und zwar egal, ob sie nur subjektiv empfunden wurden, wie die jüdische Immigration, oder objektiv vorhanden waren wie die damalige Wirtschaftskrise. Diese angebliche Verschwörung wurde auch in den kommenden Jahrzehnten für verschiedene politische Entwicklungen verantwortlich gemacht: für die Niederlage im Ersten Weltkrieg, für die Weltwirtschaftskrise 1929 oder für die Erfolge des Bolschewismus. Dem Nationalsozialismus, der in der Tradition dieser völkischen Bewegung stand, gelang es schließlich, an die Macht gewählt zu werden. In der Folge konnte er weite Teile Osteuropas erobern, wodurch er alle vorhandenen technischen und logistischen Mittel nutzen konnte, um einen industriellen Genozid an der jüdischen Bevölkerung zu verüben.

Die Shoa ist in der Geschichte der Menschheit bis heute singulär. Singulär, weil sie ein Selbstzweck war. Es ging nicht darum, sich strategische Vorteile im Krieg zu verschaffen oder sich aufmüpfiger Bevölkerungsteile zu entledigen wie in vielen anderen Genoziden. Jüdinnen*Juden wurden getötet, weil man Jüdinnen*Juden töten wollte. Singulär war auch der Wille, wirklich alle, die man für jüdisch hielt, zu töten: ob Kinder oder Senior*innen, ob Gesunde oder Kranke, ob Männer oder Frauen. Und nicht zuletzt war die Shoa auch singulär, weil der Nationalsozialismus sämtliche damals zur Verfügung stehenden Möglichkeiten an technischen Mitteln und bürokratischen Methoden nutzte. So wollte er die sogenannte „Endlösung“ möglichst lückenlos und reibungsfrei erreichen. Je nach Schätzung fielen ihr zwischen 5,6 oder 6,3 Millionen Jüdinnen*Juden zum Opfer.

Die Singularität der Shoa spricht auch für eine Singularität ihrer ideologischen Voraussetzung, des Antisemitismus. Als Weltbild ist er seit bald zwei Jahrtausenden virulent und wusste sich veränderten historischen Kontexten immer wieder anzupassen. Heutzutage leben wir in einer Gesellschaft, in der niemand Antisemit*in sein will und dennoch judenfeindliche Einstellungen und Handlungen seit Jahren zunehmen. Der Antisemitismus ist diskreditiert und wächst zugleich weiter an. Ein Paradoxon. Kommunikationslatenz nennt das die Antisemitismusforschung.

Der Antisemitismus von heute nennt sich anders, nennt sich „Querdenken“, nennt sich „Alternative für Deutschland“ oder auch „Palästina spricht“. Er reproduziert uralte Vorstellungen und projiziert sie auf George Soros oder auf Israel. Er behauptet angesichts der kalkulierten Skandalisierung, doch gar kein Problem mit Jüdinnen*Juden zu haben, sondern nur mit einem jüdischen Milliardär wie Soros oder dem jüdischen Staat. Dabei gleichen sich die Argumentationsstrukturen aufs Haar: Ob man sich in seiner vermeintlich angegriffenen Meinungsfreiheit nun durch Soros oder durch die sogenannte Israel-Lobby bedroht sieht – in beiden Fällen wird eine jüdische Übermacht in Medien und Gesellschaft herbeifantasiert, die nicht existiert. Als Antifaschist*innen müssen wir aus der Shoa die Lehre ziehen, jedweden Antisemitismus im Keim zu ersticken. Wir müssen ein Gespür für seine Wandlungsfähigkeit und seine kommunikativen Strategien entwickeln. Wir müssen uns für die zentralen Motive und Ideologeme des Antisemitismus sensibilisieren, um sie in den unterschiedlichsten Kontexten erkennen zu können – auch und gerade dann, wenn nicht pauschal und offen gegen Jüdinnen*Juden gehetzt wird. Nicht zuletzt müssen wir uns in diesen Zeiten, in denen sich die jüdische Bevölkerung auch in Deutschland von verschiedenen Seiten bedroht sieht, mit ihr und ihrem Schutzraum in Israel solidarisch zeigen.

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