Liebe Anwesende,
Wir haben uns hier versammelt, um ein Zeichen gegen Antisemitismus zu setzen. Neben uns in der Olympiahalle findet bald ein Konzert von Roger Waters statt, der nicht mehr nur Künstler oder Musiker ist, sondern ein politischer Agitator, ein Hetzer gegen den Staat Israel, wie er durch seine Unterstützung von BDS verdeutlicht. Diese Agitation integriert er auch in sein Konzertprogramm, wenn er einen Ballon in Gestalt eines Schweins in die Luft steigen lässt, auf dem ein Davidstern zu sehen ist – neben Hammer und Sichel, Symbolen von Dollarzeichen, den Logos diverser Großkonzerne wie Shell oder Mercedes Benz sowie zwei übereinander gekreuzte Hämmer, die vom Hakenkreuz abgeleitet sind. Die „Judensau“ in Gesellschaft von Kapitalismus, Bolschewismus und Faschismus also. Antisemitischer geht es nicht.
Waters ist dabei nur Symptom und keine Ursache. Wer aber die Wurzeln des Antisemitismus bekämpfen will, muss tiefer gehen, sich damit beschäftigen, in welcher Gesellschaft wir leben und wie diese Antisemitismus immer wieder hervorbringt. Einen geeigneten Ansatz liefert immer noch die Theorie des Historikers Moishe Postone in seinem Artikel „Nationalsozialismus und Antisemitismus“ von 1979. Ausgangspunkt ist seine Auffassung von Antisemitismus als einer Ideologie, die die Entwicklung des Kapitalismus mit Jüdinnen*Juden personifiziert und identifiziert. Anknüpfend an Karl Marx unterscheidet er zwischen Sein und Schein des Kapitalismus. Dass gesellschaftliche Verhältnisse im Kapitalismus als natürlich erscheinen, hängt damit zusammen, dass die dabei produzierte Ware gleichzeitig Gebrauchswert und Tauschwert ist.
Ihr Gebrauchswert entsteht mit der Arbeit für die Ware: Durch die konkrete Herstellung eines Produkts gewinnt es seinen Wert durch den konkreten Gebrauch. Ein Stuhl, der von einer*einem Arbeiter*in produziert wird, gewinnt seinen Wert daher, weil er als Sitzfläche gebraucht werden kann. Als Tauschwert ist die Ware jedoch abstrakt, ob Stuhl, Strick oder Sprengkapsel. Dieser Wert ergibt sich daraus, wogegen sie getauscht werden kann. Wer eine Sprengkapsel braucht, tauscht dagegen was auch immer möglich ist, unabhängig davon, ob es sich um Stühle, Stricke oder sonst was handelt. Als Tauschwerte abstrahieren sie von konkreten Tätigkeiten und konkreten Gebrauchswerten. Das kommt daher, dass sie sich im Tauschprozess auf andere Waren beziehen und nicht allein auf sich selbst.
Die Produkte erhalten dadurch gesellschaftlichen Charakter und werden so erst zu Waren. Was verborgen bleibt, sind die durch die Ware vermittelten sozialen Verhältnisse zwischen den Produzent*innen, die füreinander produzieren. Denn der Tauschwert erscheint als Geld, aber der Gebrauchswert als Ware – obwohl alle Waren und auch das Geld Tauschwert und Gebrauchswert zugleich sind. Auf Stühlen kann man sitzen und man kann sie tauschen. Und Geld kann man nicht nur tauschen, sondern auch anlegen oder aufbewahren.
Was hat das mit Antisemitismus zu tun? Laut Postone entwickeln sich pseudo-antikapitalistische Denkformen, die dem Tauschwert den Gebrauchswert als „natürlich“ gegenüberstellen, obwohl auch gesellschaftlich vermittelt ist. Kleine Läden und Betriebe, die als reiner unvermittelter Gebrauchswert erscheinen, gelten daher als urwüchsige, organisch verwurzelte Dinge, denen Großkonzerne und das Bankensystem als parasitär und unnatürlich gegenübergestellt werden. Jüdinnen*Juden fungieren in dieser pseudo-antikapitalistischen Vorstellung als Personifikation dieser scheinbar künstlichen Seite des Kapitalismus. Sie werden fälschlich mit diesem insgesamt identifiziert und daher für alle negativen Aspekte der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft wie Unfreiheit, Entfremdung, Ausbeutung, Unterdrückung, Krieg und Umweltzerstörung verantwortlich gemacht. Währenddessen bleibt zugleich der Kapitalismus an sich unverstanden und unangetastet. Notwendige Systemkritik wird so durch eine platte und lebensgefährliche Moral ersetzt.
Postones Theorie wurde vielfach gelobt und aufgegriffen. Der Antisemitismus-Beauftragte der Stadt Berlin, Samuel Salzborn, bezeichnete sie beispielsweise als „besonders innovativ“ und würdigte ihren Beitrag für ein besseres Verständnis der Shoa. Auch der israelbezogene Antisemitismus wird durch sie erklärbarer. Wie die Ware verfügt auch der moderne kapitalistische Nationalstaat über einen Doppelcharakter. Schein und Sein: Der Staat ist widersprüchlich. Er ist von den Menschen künstlich gebildet und erscheint als natürlich, organisch und überhistorisch. Zudem ist er Garant für Bürgerrechte ebenso wie für Repression, Ausbeutung und Diskriminierung. Was aber für jeden kapitalistischen Staat gilt, wird auf der Ebene der Erscheinung gespalten: Negative Aspekte moderner bürgerlicher Staatlichkeit werden auf den Staat Israel projiziert. Dieser wird daher als unnatürlich, undemokratisch, rassistisch, ja faschistisch wahrgenommen und verurteilt. Als umso natürlicher und moralisch erhabener werden vor dieser Schablone alle anderen Staaten imaginiert, ob sie sich nun Palästina nennen oder Deutschland.
Das alles erklärt auch im Falle Roger Waters die Assoziation von Judentum mit Geld und Konzernen und die Dämonisierung des Staates Israel. Kein Zweifel: Um den Antisemitismus nachhaltig zu bekämpfen, reicht es nicht, den Antisemit*innen mit Stellungnahmen und Gegenkundgebungen hinterherzulaufen, so notwendig das alles ist. Wichtig ist es, Initiative zu zeigen und den Antisemitismus an seinen Wurzeln zu packen. Eine dieser Wurzeln ist die bürgerlich-kapitalistisch-nationalstaatliche Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Sie ist es, die täglich Antisemitismus produziert und reproduziert und sie ist es auch, die endlich überwunden werden muss.
